Der Ruf des Drachen by Grimbert Pierre

Autor:Grimbert, Pierre
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Heyne
veröffentlicht: 2014-12-16T16:00:00+00:00

22

In der Kathedrale des alten Viertels von Zauberranke war es furchtbar heiß. Selten war es hier so voll. In der Bruderschaft herrschte Religionsfreiheit, und die Weltwanderer zwangen die Schüler nicht dazu, irgendeinen Gottesdienst zu besuchen. Wer mochte, konnte zu den Göttern beten, an die er glaubte, aber die meisten Schüler waren nicht besonders fromm.

An diesem Abend war es anders. Radjaniel wusste nicht, wann das letzte Mal so viele Menschen unter dem eindrucksvollen Gewölbe der Kathedrale versammelt gewesen waren. Oder vielmehr wusste er es schon, aber es handelte sich um eine Zeit, die er mit allen Mitteln zu vergessen suchte. Doch leider hatte selbst der Alkohol, den er all die Jahre in sich hineingeschüttet hatte, die Bilder nicht ganz verschwinden lassen.

Fast alle Bewohner Zauberrankes waren gekommen. Sie drängten sich in den Bänken und standen dicht an dicht im hinteren Teil des Kirchenschiffs, am Eingang und sogar draußen auf dem Vorplatz, jenseits des offenen Tors, da die Kathedrale nicht groß genug für die riesige Menschenmenge war. Der Gottesdienst hatte vor über zwei Stunden begonnen, aber niemand dachte daran, vorzeitig zu gehen, obwohl es schon spät war, vielen der Magen knurrte und selbst die Zähesten bis zum Umfallen müde waren.

Zum wiederholten Male tastete Radjaniel nach seinem Bandelier. Er trug seinen Zeremoniengürtel, ein breites Band aus golddurchwirktem Samt, das ihm ungewohnt leicht auf der Schulter lag. Seit er dem Alkohol abgeschworen hatte, war er auch wieder dazu übergegangen, die traditionellen Ehrenzeichen der Bruderschaft zu tragen, und ohne seinen vertrauten Ledergürtel kam er sich beinahe nackt vor. Doch mit dem Tragen des Zeremoniengürtels erwiesen die Lehrer den Gefallenen die letzte Ehre, und Radjaniel wäre es nicht in den Sinn gekommen, mit der Tradition zu brechen. Nicht in einem so feierlichen Augenblick.

Die Bewohner von Zauberranke nahmen mit dem Gottesdienst Abschied von den Toten, die vor dem Altar aufgebahrt worden waren. Nach vielen Gebeten und Segenssprüchen begann man damit, die Leichname einzuäschern. Auch das geschah im Inneren der Kathedrale, die gleichzeitig als Krematorium diente. Vier Männer in langen Gewändern trugen eine Leiche nach der anderen hinter einen Vorhang aus Rauchschwaden, die den Schleier symbolisieren sollten. Abseits aller Blicke ließen sie die Toten in ein unterirdisches Verlies herabsinken. Dort loderte ein ewiges Feuer, das praktisch seit der Gründung der Schule brannte. Anschließend kehrten die Träger mit der leeren Bahre zurück, während die Oberste Priesterin bereits den Namen und die Verdienste eines weiteren Opfers verlas.

Obwohl der Gottesdienst straff durchorganisiert war, zog er sich in die Länge, und der Schwall heiße Luft, der jedes Mal über die Zuschauer hinwegfegte, wenn die Falltür geöffnet wurde, unterstrich die Monotonie der Prozedur. Die Weltwanderer hatten fünfundachtzig Opfer zu beklagen, seit zwei Schwerverletzte ihren Wunden erlegen waren. Die Besatzung des Schiffs hatte die Leichen der toten Matrosen mitgenommen, um sie auf See zu bestatten. Beklommen dachte Radjaniel daran, dass das Schiff auch die Briefe an die Familien der Opfer transportierte. Im nächsten Sommer würden die Weltwanderer, die loszogen, um neue Schüler zu rekrutieren, noch mehr Mühe haben als sonst, Freiwillige zu finden. Doch das war im Moment nicht seine größte Sorge.

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